Letztens habe ich ein gutes Buch über Wissenschaften in der Romantik („The Age of Wonder“, Richard Holmes, meist über England und Frankreich) gelesen, und ich war überrascht, wie viel Begeisterung die Leute damals für die Wissenschaften und neuen Entdeckungen hatten.
>>also in english: Why you are against me?
Es war Mode, in wissenschaftliche Vorträge zu gehen, Wissenschaftler waren Stars, Regierungen erkannten, wie nützlich die Wissenschaft sein könnte.
Ganz sentimental dachte ich: Ach, wäre es nicht schön, in so einer Gesellschaft zu leben? Eine, die die Wissenschaften liebt und darauf stolz war?
Eine Gesellschaft, für die “Fortschritt” kein bedrohliches, zynisches Wort war, sondern ein Wort voller Versprechen und Potential, eine Gesellschaft, die begeistert in die Zukunft schaute und stolz auf seine Leistungen ist.
Eine Gesellschaft, die der Wissenschaft misstraut, oder die ein anderes Glaubenssystem mehr schätzt als die Wissenschaften, orientiert sich an die Vergangenheit, denn daher kommen die Bücher und Propheten, auf die sie sich verlassen.
Sie haben Angst vor Entdeckung, Fortschritt und Leistung, weil diese die Bücher und Propheten der Vergangenheit widersprechen oder ersetzen; eine solche Gesellschaft lehnt das Neue ab, misstraut der Zukunft und ist grundsätzlich stagniert.
Schauen Sie sich die Gesellschaften außerhalb des Westens an, die sich auf alte Bücher und Propheten verlassen (und es gibt eine Menge da draußen) – und fragen Sie sich: Schreiten diese Gesellschaften in die Zukunft, oder halten sie sich an der Vergangenheit fest?
Unsere Gesellschaft, unsere westliche Welt, geht heute in diese Richtung.
Unsere Welt hat einmal die Wissenschaften verehrt, heute misstraut sie ihnen; wir haben sogar Angst vor ihnen, obwohl wir alle wissen, dass alles, was wir haben, auf Wissenschaft basiert.
Es ist modern, wenn wir über Wissenschaft reden, über fundamentalistische Christen zu meckern – die Verrückten in Kentucky, die eine Arche bauen, oder versuchen, Kreationismus in die Schule einzuschmuggeln.
Doch es sind nicht nur sie – es sind nicht nur derjenigen, die den Klimawandel verleugnen, weil sie Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatz haben.
Wir sind es. Misstrauen gegen gegen die Wissenschaft sitzt im Herzen des Links-Liberalismus und gehört heute zum Kern unserer modernen, gebildeten, nicht-religiösen Mentalität.
- Es steckt in der “Zurück-zur-Natur/Bio/etc.”-Bewegung, die suggeriert, dass “industrielle Landwirtschaft” (die zum ersten mal in der Weltgeschichte genug Lebensmittel für die ganze hungernde Welt produziert) irgendwie grundsätzlich böse sei, dass Nahrungswissenschaftler und die Menschen, die Insektizide herstellen in Wirklichkeit uns alle töten wollen (obwohl sie in Wahrheit dazu beitragen, dass wir heute die zum ersten mal in der Weltgeschichte genug Lebensmittel für die ganze hungernde Welt produzieren können);
- Es steckt in der vorgespielten, latent anti-westlichen Bewunderung von “östlicher” und esoterischer “Medizin”: Jeder, der zur Akupunktur geht oder homöopathische Mittel kauft, gibt seine Stimme gegen die Wissenschaft ab;
- Es steckt in der nicht-fundierten Angst vor Nuklearenergie, Kohle und traditionelle Formen der Energie-Gewinnung töten und schaden noch heute;
- und wo wir gerade davon sprechen – ohne Nuklearanergie werden wir andere Planeten nie erreichen. Die Idee, dass wir es einmal nötig oder einen Vorteil davon haben, andere Planeten zu kolonisieren, ist ebenso verpönt, weil dies besagt, dass wir unseren Planeten, den wir im 21. Jahrhundert wie eine altertümliche Gottheit anbeten, nicht mehr lieben.
– Leute, wir sind schon 6 Milliarden Menschen, entweder wir fangen bald mit Zwangssterilisation und Massenexekutionen an, oder wir machen uns Gedanken darüber, welche Möglichkeiten es für unsere Ur-Ur-Ur-Enkel da draußen gibt;
- Es steckt in dem Widerspruch, einerseits zu sagen, “Klimawandel ist bewiesen, weil 99% der Wissenschaftler das sagen” und gleichzeitig zu sagen, „Ist mir egal, dass 99% der Wissenschaftler Gen-Food harmlos und als Vorteil finden, sie sind alle korrupt und von Unternehmen gekauft worden” (und übrigens, habt ihr wirklich in der Schule nicht gelernt was DNA ist? Dass auch Pflanzen eine DNA haben und wenn wir Pflanzen essen, essen wir deren DNA, aber trotzdem werden wir dadurch nicht zu Pflanzen?);
- Es steckt in bizarren Modebegriffen wie “Zivilisationskrankheit”, die besagen, dass unsere Gesellschaft selbst uns krank macht (Leute, grabt mal in einem Friedhof aus dem Mittelalter oder gar aus dem 19. Jahrhundert herum und fragt euch, warum der Großteil der Skelete vor ihrem 40. Lebensjahr oder gar bei der Entbindung gestorben sind?)
– die echte Zivilisationskrankheit ist eine Zivilisation mit einer unterentwickelten Wissenschaft;
- Es steckt in dem sentimentalen Glauben, dass unsere Wehwehchen verschwinden, wenn wir endlich im Einklang mit der Natur leben
– aber wenn wir von der “Natur” sprechen, meinen wir die Blumen auf der Wiese und die majestätischen Berge mit ihrem weißen Gipfeln
– wir meinen nicht die Zerstörungskraft der Naturkatstrophen, der wütenden Krankheiten oder gar die Schwächen unseres Körpers, die wir mit Brille, Prothesen und Zahntechnik ergänzen müssen; wir meinen nicht den Teil der Natur, gegen die die Menschheit seit Jahrhunderten ums Überleben kämpft und das erst seit ein paar Jahren einigermaßen erfolgreich.
Die Wende kam in den 60ern, als die jungen Leute, die an Wohlstand und Privilegien, zu der sie aber nichts beigetragen hatten, gewöhnt waren, sich gegen die älteren Generation auflehnten. In den 50ern noch war es Mode, von “Fortschritt” zu reden, aber seit den 60ern reden wir nur von dem Preis, den man dafür zahlt: Luftverschmutzung, Ungleichheit, die Gefahren des Atomzeitalters
– die Gefahren und die negativen Seiten des Fortschritts sind alles, was wir heute sehen.
Plötzlich war westliche Medizin nicht so rein und gut und echt wie der Schamanismus aus modernen steinzeitlichen Gesellschaften, wo die Lebenserwartung auf 40 Jahre begrenzt ist, wo die Frau nichts zu melden hat, wo ungleiche Herrschaft und Ausbeutung nicht die Ausnahme sondern der Regel war.
Plötzlich war alles eine Verschwörung und alle Wissenschaftler steckten in der Tasche des Großkapitalismus; alles, was ein Wissenschaftler sagte, war eine Lüge.
Manche Ängste und Sorgen waren auch berechtigt – Nuklearenergie ist gefährlich, Autos bringen Luftverschmutzung mit, und nein, die moderne Medizin kann nicht alle Krankheiten heilen, das stimmt schon.
Der Aktivismus der 68er-Generation half mit, eine bessere Welt zu schaffen, mit mehr Regulierungen und einem höheren Bewusstsein für die Probleme und Herausforderungen, die mit Fortschritt einhergehen. Und ja, die Angst vor der Atombombe war berechtigt.
Ich verstehe die Hippies und ihre Ängste, ich respektiere sie und bin sogar dankbar für ihren Beitrag für die Welt in der wir jetzt leben. Aber was zu ihrer Zeit richtig und dringend notwendig war, ist nicht die Sorge unserer Zeit. Jener Atomkrieg, vor dem wir alle Angst hatten – er ist nie passiert.
Dennoch sehe ich niemanden, der diese Tatsache feiert. Ich höre niemanden, der sagt, “Mannomann, wir hatten zwei riesige Supermächte, die sich Jahrzehnte anbrüllten, dennoch hat keiner von ihnen die Atombnombe rausgeholt
– scheinbar sind wir klüger, moralisch besser, verantwortlicher, und besser informiert, als wir uns jemals vorstellten. Stattdessen höre ich ungebremst dieselbe Angstmacherei der überalterten 70er weiter, mit nur leichten Variationen aber ohne die Berechtigung, die die 68er hatten.
Wir protestieren nicht, weil es wirklich etwas zum protestieren gibt, sondern, weil unsere Großeltern protestiert haben. Und sie galten als moralisch richtig, also wollen wir so sein wie sie. Sie brachten uns bei, dass die Guten sich gegen das System auflehnten, und die Bösen das System verteidigten. Also glauben wir, das gilt auch für heute – obwohl unsere Großeltern längst das System in ihrem Sinne verbessert haben.
Was wir nicht tun, ist uns Gedanken darüber zu machen, was wirklich zu unserer Zeit passt und notwendig ist. Wir äffen den 68ern nach, anstatt Verantwortung für unsere Zeit zu übernehmen.
Wissenschaft, Kapitalismus, bilden zwar die Fundamente unsrer Gesellschaft, unseres Wohlstandes, unserer Gesundheit, unseres Erfolgs, und ja, unserer Suche nach Glück (doch doch, es ist deutlich möglicher, heute das Glück zu suchen und zu finden, als vor hundert Jahren) – trotzdem ist all das in unseren Köpfen unmoralisch geworden.
Das ist eine selbstzerstörerische Einstellung, und am Ende wird diese Entstellung in unserer Gesellschaft mehr Schaden als jeder schlechte Politiker anrichten, jede Islamisierung und jede Kapitalismuskrise.
Es ist Mode, gegen alles zu protestieren, in allem etwas böses zu finden, eine Verschwörung zu wittern, allgemein anzunehmen, dass unsere Gesellschaft grundsätzlich schlecht ist und alle anderen, die schlechter Leben als wir und auch im Kern grausamer und sind, irgendwie die moralisch besseren Menschen sind.
Obwohl es offensichtlich nicht wahr ist: Lebenserwartung, Gesundheit, Wohlstand im Westen sind viel besser als überall in der Welt.
Sowie auch Bildung, Aufklärung, Rechte und Freiheiten, Mitbestimmung im Staat, die Möglichkeit zur persönlichen Entwicklung und Verwirklichung.
Glauben Sie wirklich, die Mönche in Tibet haben es besser als Sie? Leben Sie ein Jahr lang mit ihnen, dann sprechen wir uns wieder.
Unser modernes Misstrauen gegen Wissenschaft schwächt das Fundament unseres Erfolges und stärkt Politiker wie Trump, die Demagogen die Wissenschaften schwächen und Verunsicherungstheorien statt Wissen verbreiten.
Denken Sie an die Impfgegner, die versuchen, Krankheiten wie Polio wieder salonfähig zu machen. Sie haben nur deshalb Erfolg, weil wir mit unserem ständigen Genörgel von wegen Zivilisationskrankheiten den Wissenschaftlern die Glaubwürdigkeit genommen haben.
Wir sind es, die dahinter stecken: Wir, die ständig von “big pharma” reden, die von “Schulmedizinern” reden, als ob die Schule etwas Schlechtes sei, die Ärzte als “Mediziner, aber keine Heiler” beschreiben, die glauben, jede medizinische Neuerung und Fortschritt sei wirklich nur ein Trick von Großkapitalisten, die uns alle töten wollen.
Klar, das sind die Verrückten, aber wir sind es, die ihnen die Berechtigung geben, ihre Verrücktheiten ernst zunehmen. Es gibt einen unsichtbaren Draht von jedem Bio-Laden direkt zu dem Idioten, der sagt, “Gebt eure Kinder nicht zu den Ärzten, vertrau auf die Natur, sie wird sie heilen, die Natur weiß immer, was für uns am besten ist.”
Ich wurde als Christ erzogen und liebe und respektiere Religion und gläubige Menschen. Aber als ich Kind war, hat niemand in meiner Kirche die Wissenschaften als Feind gesehen oder klein gemacht.
Wir wussten, was viele Menschen, religiöse oder auch nicht, vergessen haben: Die Wissenschaften sind das wichtigste Fundament unserer Gesellschaft.
Alles, was wir haben – von unserem überlegenen Militär, die uns und andere schützen (angefangen mit der Erfindung des Pfeil und Bogen) zu unserer überlegenen Landwirtschaft (angefangen mit der Erfindung des Pfluges) zu unserem überlegenen Bildungssystem, das auch der überzeugteste Kritiker des Westens beneidet, zu unserem überlegenen Finanzsystem, das das Ich-esse-was-auf-meinem-Land-wächst-oder-ich-hungere-System des Mittelalters überwunden hat und den Überfluss geschaffen hat, in dem wir jetzt leben, zu den tagtäglichen Innovationen, von der unsere Wirtschaft lebt – kommt aus den Wissenschaften.
Wenn Politiker diese Dinge missbrauchen, dann wechselt die Politiker aus, nicht die Wissenschaft.
Wissenschaft ist nicht ersetzbar. Wenn wir die Wissenschaften verlieren, verlieren wir alles.
Und der erste Schritt dahin ist die perfide, zerstörerische Mode, die Wissenschaft als unmoralisch und gefährlich darzustellen.
Diesen Schritt haben wir schon gemacht.
Eric T. Hansen ist Amerikaner, Buchautor, Journalist und Satiriker, lebt seit über 20 Jahren in Deutschland und heute in Berlin. Seine Bücher: ) oder und .
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