An einem anderen Kommentar (eigentlich zur Schwulenehe und zu Deutschlands Ignoranz gegenüber dem Rest von Europa, wo die Homo-Ehe fast flächendeckend schon akzeptiert wird) hat Iolo Popolo in einem sehr intelligenten und ausgewogenen Kommentar unter anderem geschrieben, dass die TTIP und das Patriot Act „den Rechtsstaat aushebeln.“
Hier meine Antwort:
Man kann ganz sicher die NSA/Patriot Act (es wird in den USA ja nach Kritik gerade gekippt) und die TTIP (die Umweltbestimmung, z.B.) kritisieren, das ist wichtig und ein Teil des Prozesses (wenn auch in diesem Stadium etwas früh).
Mein Problem ist: ich sehe keine Kritik, sondern Ignoranz, Zukunftsangst und Panikmache.
Es geht nicht darum, an den ernsthaften und wichtigen Fragen der Sicherheit (Patriot Act) oder an der trans-atlantischen Handelsbeziehungen (TTIP) mitzuarbeiten, sondern die Leute mit bizarren Behauptungen so aufzuregen, dass sie glauben, es handelt sich um das Ende der Welt (oder wie sie es sagen, ein „Angriff auf den Rechtsstaat“). Mit anderen Worten: Politiker machen wieder mal Politik und instrumentalisieren dabei die Ignoranz und die irrationalen Zukunftsängste der Bevölkerung, die sich nur zu gern hinters Licht führen lassen.
TTIP/Angriff auf den Rechtsstaat: Sie sprechen damit die schockierende Nachricht an, dass Firmen mit der TTIP sogar den Staat anklagen dürfen. Den hilflosen Staat!
Was die wenigsten Wissen: Das ist jetzt schon möglich und auch üblich, auch ohne die TTIP, in so gut wie jedem demokratischen Land der Welt.
Gerade klagt Vattenfall bekanntlich Deutschland wegen des Atomausstiegs an. Das ist kein Unding, sondern beispielhafte Rechtsstaatlichkeit: In einer Demokratie kann der Staat nicht einerseits sagen, komm, du kannst Geld verdienen mit Atomkraft, dann, nachdem ich die Investition getätigt habe, es mir wieder wegnehmen, ohne dass ich das Recht habe, den Staat vor Gericht zur Rechenschaft zu ziehen. Alles andere nennt man „Willkür des Staates“: Nur wenn auch der Staat sich vor dem Gesetzt verantworten muss, wie wir alle auch, ist Rechtsstaatlichkeit gegeben. Wird Vattenfall gewinnen? Wahrscheinlich nicht. Ist Deutschland Vattenfall hilflos ausgeliefert? Natürlich nicht: Auch ein Staat hat gute Anwälte.
(Übrigens, es ist auch schon jetzt üblich, dass solche Verfahren hinter geschlossen Türen stattfinden, denn Geschäftsgeheimnisse werden diskutiert, und im Fall eines großen transnationalen Handelsabkommen wie der TTIP ist es mehr als sinnvoll, ein besonderes Gericht von Experten ins Leben zu rufen, der sich mit der komplexen Materie auseinandersetzt, denn es handelt sich um mehrere Länder und Gesetzeslagen gleichzeitig, nicht nur um deutschen Gesetz. Deutschland ist nur ein Teil des Abkommens.)
Doch weil die meisten Otto-Normal-Verbraucher nicht wissen, wie das schon jetzt funktioniert, und weil sie auch insgesamt immer Angst vor der unsicheren Zukunft und vor allem vor dem Erzfeind Amerika haben, ist es möglich, ihm zu verkaufen, dass es sich um einen ganz neuen, unerhörten, immens gefährlichen “Angriff auf den Rechtsstaat“ geht – obwohl es im Wahrheit vorbildhafte Rechtsstaatlichkeit ist. Das Volk wird für dumm verkauft.
Patriot Act: Es wird immer als die Aushebung der Bürgerrechte dargestellt, und das ist richtig, aber was man vergisst ist: In Kriegszeiten passiert das immer. Der amerikanische Wähler, der bisher das Patriot Act unterstützt hat, hat freiwillig und vorübergehend (und ein wenig Zähneknirschend) der Sicherheit willen auf bestimmten Bürgerrechte verzichtet. Das ist ein sinnvoller Tausch, solange es vorübergehend ist. Schon jetzt wird in Erwägung gezogen, das Patriot Act bei der nächsten notwendigen Erneuerung 2016 verfallen zu lassen oder einzuschränken, das ist auch sinnvoll.
Doch viele Menschen sehen nicht, das es sich um vorübergehendes Kriegsrecht handelt: Sie glauben, eine dunkle geheime Macht (verkörpert von einem Mann mit großer Nase, der eine weiße Katze streichelt) die Welt übernommen hat und „uns alle ausspioniert“ – obwohl nicht ein mal Snowden einen Fall nennen kann, in dem die NSA ihre Befugnisse irgendwie missbraucht hätte. Auch hier: Kritik ist gut und notwendig, und das gab es auch vor Snowden, was sich aber in Deutschland abspielt, ist Ignoranz und Panikmache, mehr nicht.
Die Verbindung von Ignoranz und Panikmache hat einen riesigen Vorteil: Man darf sich auf das Gefühl freuen, dass man als einziger intelligenter, aufrechter Mensch die böse Welt durchschaut hat und allein gegen Missstände ankämpft, ohne dass man sich die Zeit und Mühe nehmen muss, sich wirklich mit der komplizierten Materie einer rasch verändernden Welt auseinander zu setzen.
Das ist auch der Grund, warum solche Dinge wie der französische Beschluss, die „Überwachung“ nach NSA-Vorbild einzuführen, in Deutschland nicht diskutiert wird (oder auch die Tatsache, dass fast ganz Europa die Schwulenehe schon hat, nur Deutschland nicht): Solange nur das böse Amerika etwas macht, kann man weiterhin auf gut/böse, schwarz/weiß-Feindbilder setzen; sobald man sieht, dass in ganz Europa sich etwas ändert, spürt man den Druck, sich selbst mit der Materie auseinanderzusetzen, und das will man nicht.
Eric T. Hansen ist Amerikaner, Buchautor, Journalist und Satiriker, lebt seit über 20 Jahren in Deutschland und heute in Berlin. Seine Bücher: ) oder . Eric T. Hansen The Hula Ink Blog
Foto: Screenshot Facebook
Siehe auch:
- Deutschland, die Schwulenehe und die Führung Europas
- Sind Amerikaner alle verrückt, oder was?
- “The Imitation Game”
- Thema Ukraine und Deutschland
- Varoufakis and the “German Angst”
- Deutschland: Es wird Zeit endlich zu reflektieren
- Die deutsche Presse, Demokratieverständnis, Pediga & Co.
- Die Deutschen sind immer die Opfer…
- Warum sind amerikanische Medien besser als deutsche?
- In Deutschland unbekannt: “Ich weiß, dass ich nichts weiß”