Genau das konnte sicher schon seine Majestät Kaiser Wilhelm II in den Feuilletons der führenden Zeitungen des Reichs lesen, und auch Angela Merkel hat sowas sehr wahrscheinlich schon mal in den Internetportalen der Qualitäts-Printmedien der Bundesrepublik Deutschland gesehen.
Ich glaube ja, beiden war oder ist das Thema herzlich egal, obwohl sie darin übereinstimmen dürften, dass ein allzu kluges Publikum auf dem Felde der Politik irgendwann doch mehr als lästig wird. Seine Majestät hätte da sicher schon Verrat gerochen.
In Artikeln, die ganz furchtbar klug und weise klingen, in denen über den Untergang Roms in der Welt der Kultur geunkt wird und die sich alle darin einig sind, dass die Masse wie seit eh und jeh eine vollkommen Verblödete ist.
Mal davon abgesehen, dass sie hier so über das deutsche Volk reden, von dem immerhin alle Gewalt ausgeht: Die Masse? Wer gehört denn dazu? Es müssen ja viele sein, die Allermeisten von denen sozusagen, die einem jeden Tag über den Weg laufen.
Man kann wohl sicher sein, dass sich die Schreiber dieser Artikel natürlich nicht zur blinden Masse zählen. Ich vermute, auch die meisten Leser solcher Publikumsbeschimpfungen würden ehrlich empört reagieren, wenn man sie mit diesem Wort titulierte.
Und ganz groß gedacht: Was käme wohl dabei heraus, wenn man allen Deutschen zwei Fragen vorlegen würde: Sind sie der Meinung, dass die Masse dumm wie Bohnenstroh ist? Und: Zählen sie sich selbst auch zur Masse? Mein Problem mit solchen Reden ist: Ich suche die Masse ja auch, aber ich finde sie nicht. So, und jetzt kommt Kurt Tucholsky.
“An das Publikum” von Kurt Tucholsky (1931)
O hochverehrtes Publikum,
sag mal: bist du wirklich so dumm,
wie uns das an allen Tagen
alle Unternehmer sagen;
Jeder Direktor mit dickem Popo
spricht: „Das Publikum will es so!“
Jeder Filmfritze sagt: „Was soll ich machen?
Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!“
Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht:
„Gute Bücher gehn eben nicht!“
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?
So dumm, dass in Zeitungen, früh und spät,
immer weniger zu lesen steht?
Aus lauter Furcht, du könntest verletzt sein;
aus lauter Angst, es soll niemand verhetzt sein;
aus lauter Besorgnis, Müller und Cohn
könnten mit Abbestellung drohn?
Aus Bangigkeit, es käme am Ende
einer der zahllosen Reichsverbände
und protestierte und denunzierte
und demonstrierte und prozessierte …
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?
Ja, dann …
Es lastet auf dieser Zeit
der Fluch der Mittelmäßigkeit.
Hast du so einen schwachen Magen?
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist also nur ein Grießbrei-Fresser –?
Ja, dann …
Ja, dann verdienst du´s nicht besser.