Mein vor einer Woche veröffentlichter Artikel “Kastration beim Hund – Ein Paradigmenwechsel” hat sich im Netz unerwartet weit verbreitet und überwältigende Zustimmung erfahren, und zwar nicht nur von Seiten der Hundehalter, sondern auch aus Teilen der Kollegenschaft. Trotzdem hat er auch – wenig überraschend – einige Fragen aufgeworfen und Verunsicherungen ausgelöst, auf die ich in diesem Folgebeitrag näher eingehen möchte.
-Warum sind Sie so wenig auf die Folgen der Kastration in Bezug auf das Verhalten eingegangen?
Auch in diesem Bereich der Forschung liegen schwerwiegende Bedenken gegen die Kastration vor. Ich bin darauf nicht näher eingegangen, weil zum einen die wissenschaftliche Erfassung kastrationsbedingter Verhaltensprobleme sehr schwierig ist, und zum anderen Kollegin Sophie Strodtbeck und ihr Mitautor Udo Gansloßer mit “Kastration und Verhalten beim Hund” ein sehr gutes Buch zu diesem Thema geschrieben haben, das wir schon seit gut zwei Jahren jedem Besitzer, der eine Kastration seines Hundes in Betracht zieht, dringend ans Herz legen.
-Was ist eigentlich mit der Sterilisation?
Die Sterilisation speziell des Rüden stellt eine klare Alternative zur Kastration dar, und zwar ganz besonders in den Fällen, wo die ungewollte Bedeckung einer Hündin befürchtet wird, beispielsweise wenn Rüde und Hündin gemeinsam gehalten werden. Bei der Sterilisation wird – wie beim Mann – durch einen kleinen Schnitt der Samenleiter durchtrennt und abgebunden. Damit wird Zeugungsunfähigkeit erzielt, ohne ansonsten irgend etwas am Hormonstatus des Rüden zu verändern. Die Operation ist chirurgisch gesehen kein Zauberwerk und mit nur geringen Risiken behaftet. Unter bestimmten Umständen auf jeden Fall eine Überlegung wert!
-Lehnen Sie jetzt Kastrationen pauschal ab?
Nein! Es ist letztendlich ein chirurgischer Eingriff wie jeder andere auch. Bei entsprechender Indikation (Hodenkrebs, Eierstock-Krebs, etc.) werden auch Menschen kastriert. Daran ist absolut nichts falsch. Es müssen aber deutlich gewichtigere Gründe zusammen kommen als noch vor einiger Zeit. Es sollte eine klare medizinische Indikation für den Eingriff vorliegen. Gerade das immer angeführte Prophylaxe-Argument ist nach Lage der Dinge nicht mehr ausreichend. Liegt eine medizinische Indikation vor, fällt die Entscheidung zur Kastration. Unter den genannten Voraussetzungen ist es aber logisch, dass wir in Zukunft deutlich weniger Kastrationen durchführen werden.
-Muss ich mir als Besitzer/in eines kastrierten Hundes jetzt Sorgen machen?
Nein, Sie müssen und Sie sollten sich keine Sorgen machen! Statistiken aus epidemiologischen Groß-Studien sind wichtig und unverzichtbar, man muss sich die wirklichen Größenordnungen aber immer wieder auch mit gesundem Menschenverstand vor Augen halten. Wie ich in meinem Artikel schon geschrieben habe: Wenn eine bestimmte Tumorart normalerweise eine Vorkommenswahrscheinlichkeit von 1,5 Prozent hat, dann bedeutet eine Verdreifachung, dass das Risiko auf 4,5 Prozent steigt. Aus der Sicht des Epidemiologen ist das schon eine ordentliche Hausnummer. In den Augen eines Optimisten heißt das aber auch, dass ein bestimmter Hund diesen bestimmten Tumor zu 95,5 Prozent in seinem Leben nicht bekommen wird.
Dazu kommt die Tatsache, dass epidemiologische Massenstudien nur mit relativ großem Aufwand betrieben werden können und dementsprechend nicht jede Woche eine neue veröffentlicht wird. Bisher beschränken sich die Studien, die mich zu meiner Positionsänderung bewegt haben, auf bestimmte Hunderassen wie den Magyar Vizsla und den Golden Retriever. Wir wissen schon lange, dass bestimmte Hunderassen eine Neigung (Prädisposition) für die eine oder andere Tumorart haben können. So gesehen müssen die genannten Risikoverschiebungen für die anderen Hunderassen nicht unbedingt in der gleichen Größenordnung zutreffen. Die ursprüngliche Frage wurde beispielsweise von der Besitzerin eines Cairn Terriers gestellt. Cairn Terrier haben insgesamt nur sehr wenig rassespezifische Krankheitsdispositionen und fallen nicht durch das vermehrte Auftreten bestimmter Tumortypen auf. Also kann man davon ausgehen (ohne jeden Beweis natürlich!), dass die in den Studien bei Vizslas und Goldies ermittelten Risiken einen Cairn-Terrier in eher geringerem Ausmaß betreffen.
-Wenn die Risiken rechnerisch so klein sind, warum dann der ganze Aufruhr und die Änderung des Standpunktes zur Kastration?
Die individuelle Entscheidung pro oder contra Kastration muss man sich als Waage vorstellen. In die betreffenden Waagschalen werden die auf einen individuellen Hund zutreffenden Vor- und Nachteile des Eingriffs gelegt und am Ende neigt sich die Waage in die eine oder andere Richtung. Das war in guten Tierarztpraxen immer schon so. Wo wir aber noch vor kurzem den Entscheidungsprozess mit zwei leeren Waagschalen begonnen haben, müssen wir aufgrund der neuen Erkenntnisse jetzt von vornherein ein nicht unbeträchtliches Gewicht in die Contra-Waagschale legen. Wo ich noch vor einem Jahr einer Kastration zugestimmt hätte, würde ich heute also eventuell ablehnen. Nihil nocere! Niemals schaden!
Man denke an die in der humanmedizinischen Forschung berühmt-berüchtigte CARET-Studie, bei der über 80000 Menschen mit hohem Lungenkrebs-Risiko (durch Rauchen und Asbest-Exposition) in zwei Gruppen geteilt wurden und die eine Hälfte Carotin und Vitamin A (also Antioxidantien) erhielt, weil sich aus früheren Studien ergeben hatte, dass diese Substanzen eventuell die Krebsrate senken könnten. Recht schnell, lange vor dem Ende der auf jahrelange Beobachtung angelegten Studie, stellte sich heraus, dass die Probanden, die die Antioxidantien einnahmen, erschreckenderweise ein um 46 Prozent erhöhtes Risiko hatten, an Lungenkrebs zu sterben. Diese ganz und gar unerwartete Erkenntnis führte zum sofortigen Studienabbruch aus ethischen Gründen. Im Prinzip (und stark vereinfacht gesehen) ist die seit Jahrzehnten weltweit geübte Kastrationspraxis ein ganz ähnlicher Studienaufbau: Die eine Gruppe Hunde wird einfach in Ruhe gelassen, bei der anderen wird etwas unternommen, eine sogenannte Intervention. Bei der CARET-Studie bestand die Intervention aus der Gabe der Antioxidantien, in unserem Fall aus der Kastration.
Nun zeigen die aktuell vorliegenden Studien für einige sehr bösartige und gefährliche Tumorarten ein nicht etwa um knapp 50 Prozent erhöhtes Risiko, nein, wir reden hier von teilweise mehreren hundert Prozent Riskosteigerung für kastrierte Tiere. Auch nur der leiseste Verdacht einer solchen Entwicklung würde in jeder humanmedizinischen Studie zur panikartigen Beendigung führen. Darüber müssen wir uns Gedanken machen! Wir waren, genau so wie die Durchführenden der CARET-Studie, guten Glaubens, mit unserer Intervention etwas gesundheitlich Sinnvolles für unsere Patienten zu tun. Nun mehren sich die Hinweise und Verdachtsmomente, dass wir damit leider auf dem Holzweg waren. Auch wenn mir – wie schon erwartet – aus verschiedenen Richtungen vorgeworfen wird, vorschnelle Schlussfolgerungen zu ziehen: Mir reicht allein der schwerwiegende Verdacht einer Schädlichkeit des bisherigen Vorgehens aus, um erst mal, wann immer möglich, nicht zu kastrieren.
-Warum haben Sie Ihren Standpunkt zur Kastration geändert, viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen aber nicht?
Man darf sich die Medizin egal welcher Fachrichtung nicht als im Gleichschritt marschierende Armee vorstellen. Eine Vorgehensweise, die über Jahrzehnte als gut und richtig galt, brennt sich in die Köpfe ein und ist da nicht mehr so leicht rauszubekommen. Nehmen Sie das Mammographie-Screening in der Humanmedizin als Beispiel: Wie viele der weiblichen Leser gehen da hin, in der festen Überzeugung, eine sinnvolle Vorsorge-Untersuchung wahrzunehmen? Aller Wahrscheinlichkeit nach ist dieser Gedanke aber leider falsch, denn nach den vorliegenden Daten schadet das Mammographie-Screening mehr als es nützt. Viele der Mediziner, die mit dem Screening zu tun haben, vor allem Gynäkologen und Radiologen, wehren sich im Moment noch mit Händen und Füßen gegen die ziemlich handfesten Ergebnisse der Medizin-Statistiker. Das Screening wird noch eine ganze Weile weiterlaufen und von vielen Ärzten als gute Sache bezeichnet werden. Genau so müssen Sie das mit der Kastration sehen. Ein Paradigmenwechsel zieht sich!
Sollten sich weitere Fragestellungen ergeben, werde ich den Artikel eventuell noch erweitern. Haben Sie bei Interesse also bitte ein Auge drauf und bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr Ralph Rückert
Ralph Rückert ist niedergelassener Tierarzt für Kleintiere in seiner Praxis in Ulm
Siehe auch:
- Kastration beim Hund – Ein Paradigmenwechsel
- Die Kastration des Hundes – eine juristische Betrachtung
- Kastration
- Geschlechtsorgane der Hündin
- Geschlechtsorgane des Rüden
- Osteoporose
- Mammatumor – Brustleistentumor
- Hypothyreose (Unterfunktion der Schilddrüse)
- Tiermedizin: Krankheit statt Gesundheit?
- Pharmaindustrie: Erfundene Krankheiten – das Geschäft mit der Angst
- Mehr Transparenz und Ethik in der Tiermedizin!
- Präventive Chirurgie: “Brustamputation” auch bei Hunden?
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