Im Großraum Moskau leben ca. 15 Millionen Menschen. Praktisch unbekannt ist in Deutschland, dass in Moskau wie den anderen Metropolen Russlands eine große Zahl an streunenden Hunden leben, friedlich und von den Menschen akzeptiert. Das Streunern in den Siedlungen der Menschen gehörte in Russland schon immer zu einer ganz normalen Lebensform der Hunde. Die Moskauer Hunde haben sich aber etwas Besonderes ausgedacht.
Sie haben ein ganz neues Biotop erobert: Die Moskauer Metro.
Die Metro-Hunde fahren morgens aus den Vororten Moskaus mit der U-Bahn Richtung Innenstadt. Hier kommen sie leichter an ihr Futter. Aber ihnen scheint das Herumfahren auch zu gefallen. Der Zoologe Andreij Pojarkow vom A.N.Severtsov-Institut für Ökologie und Evolution der Russischen Akademie der Wissenschaften schätzt, dass heute 35.000 Hunde in Moskau als Streuner leben (1). Pojarkow beobachtet die Hunde seit 1979. Sie haben sich in den letzten Jahrzehnten systematisch die Metro erobert.
Sie kennen ihre U-Bahnlinien, wissen, an welchen Stationen sie ein- und aussteigen müssen. Pojarkow meint sogar, dass die Hunde von sich aus darauf achten, ihr Geschäft möglichst dezent und nie etwa auf den Gehwegen oder Bahnsteigen zu erledigen – für den Berliner aus Mitte eine kaum vorstellbare Botschaft.
Sie halten die U-Bahn frei von Ratten, säubern die Straßen und werden dabei auch gerne einmal von den Moskauern gefüttert. Überhaupt seien sie so etwas wie ein städtischer Reinigungsdienst. Die meisten Moskauer achten und mögen diese Hunde, selbst wenn sie zuweilen auf einer Sitzbank in der U-Bahn ihr Nickerchen halten. Die Hunde wissen, wie sie sich benehmen müssen, und seien zudem hervorragende Psychologen, meint der Wissenschaftler. Er hält die Hunde für einen integralen Bestandteil des Moskauer Stadtlebens und hält auch nicht viel von Sterilisationsprogrammen. “Warum sollten wir die streunenden Hunde, die immer mit uns gelebt haben, abschaffen?” fragt Zoologe Andrei Poyarkov (1).
Strassenhund in Moskau
Streunern als eine “natürliche” Lebensform des Hundes
Streunende Hunde sind vielen Hundefreunden in Deutschland hingegen ein Dorn im Auge. Nicht etwa, weil sie ihnen lästig wären. In Deutschland kommen Streuner heute eh nicht mehr vor. Streunende Hunde werden per se als hilfsbedürftig und nicht selten gar als Kandidaten wahrgenommen, die per Import nach Deutschland gerettet werden müssten. Aktuell sind wir zudem mit teils grausamen Meldungen konfrontiert, die darauf aufbauen, dass in der Ukraine viele Hunde als Streuner leben. Aber die Lebensweise als Streuner alleine muss für die Hunde noch kein schlechtes Schicksal bedeuten.
Streuern in und um menschliche Siedlungen ist zunächst einmal eine “natürliche” Lebensform des Hundes – soweit man bei einem so tiefgreifend domestizierten und in die menschliche Gesellschaft eingebundenem Tier von natürlich sprechen kann. Anerkannte Hundeforscher wie Biologie-Professor Ray Coppinger sehen im Streunern die eigentliche Standard-Rolle des Hundes (2). Dieser Aussage kann der Autor nur eingeschränkt zustimmen, wie hier in der Serie zur “Unsere Geschichte auf 6 Pfoten” dargelegt wurde. Man muss aber feststellen, dass Hunde die Rolle als Streuner gerne annehmen. Hunde in der Standard-Rolle als herrenlose oder auch nur scheinbar herrenlose Streuner sind in weiten Teilen der Erde zu finden. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 80% der weltweiten Hundepopulation als Streuner leben.
Junge Strassenhunde in Moskau
Das (Un-) Verständnis des Wohlstandsbürgers
Vielen Hundefreunden in den von der Natur entfremdeten Wohlstands-Gesellschaften Mittel-Europas und Nordamerikas ist es nicht vorstellbar, dass sich die Hunde dabei wohl fühlen können. Ich sehe das anders. Ich denke, dass Hunde, die meisten zumindest, es lieben, in ihrem Revier herumzustreunern, wenigstens phasenweise. Selbst in Deutschland gab es solche Streuner auf den Dörfern noch bis vor wenigen Jahrzehnten.
Die mit Abstand cleversten Hunde, die ich erleben konnten, waren solche Streuner. Es waren – unabhängig voneinander – zwei “stammbaumlose” Mittelspitze. Kein Zaun im Dorf war für Blacky unüberwindbar. Er holte die Kinder der Familie zu den jeweils exakten Zeiten von der Schule ab. Er ging mit Herrchen bei Fuß durch den Bahnhof der Stadt. Obwohl selbst alles andere als eine stattliche Erscheinung war er der Chef der Hunde im Dorf. An der Leine war er nie. Er lief frei herum. Früher war ein solches Hundeleben auch in Deutschland überall anzutreffen.
Noch weiter zurück, im Mittelalter, streunerten in den Städten, neben herrenlosen Hunden, auch die Arbeitshunde, die nach getaner Arbeit als Zughund des Metzgers oder Bäckers so ihre “Freizeit” verbrachten und selbstständig nach Fressbarem suchen mussten.
Eine der vielen Hunde-Skulpturen in Moskau
Laiki – die russischen Dorfhunde
In Russland hat sich das Streunern der Hunde ohne Unterbrechungen bis in die heutige Zeit erhalten. Die russischen Dorfhunde, die Leiki, die man überall von Finnland bis zum Pazifik heute noch findet, lebten schon seit Menschengedenken immer auch als Streuner. Das hinderte sie nicht daran, wichtige Arbeitsaufgaben für die Menschen zuverlässig zu erledigen.
Der Laika ist ein hervorragender Jagdhund. Er ist aber zugleich auch ein verlässlicher Wach- und Schutzhund. Es wird berichtet, dass sich die Laiki eines Dorfes zusammenschließen, um eingedrungene Bären gemeinsam zu verjagen (3,4). Im Mittelalter bis in die Neuzeit spielte der Laika eine zentrale Rolle für den Pelzhandel, der das alte Russland reich machte. Der Laika war der beste Zobel-Jäger. Bis zu 1000 Goldrubel wurden für Spitzenexemplare gezahlt, wie Friedrich Lühr Ende des 19. Jahrhunderts berichtet (5). Nichtsdestotrotz mussten sich die Laiki in vielen Regionen während der Sommermonate selbst um ihr Futter kümmern und lebten so als Streuner.
Ähnliches gilt für die Schlittenhunde. Gleichwohl haben die Hunde ein hohes Ansehen bei den Menschen. Die Menschen wissen darum, dass sie ohne Hunde in den langen, kalten Wintern aufgeschmissen sind, sie respektieren ihre hervorragenden Dienste. Ein sibirisches Sprichwort lautet: “Wenn sich im Paradies eine Menschenseele und eine Hundeseele begegnen, muss sich die Menschenseele vor der Hundeseele verneigen.”
Russische Laiki
Hunde verstehen!
Auch in den schnell wachsenden Städten des Zarenreiches und später bis in die heutige Zeit hat sich diese Stellung des Hundes in Teilen behauptet. Der Journalist und Schriftsteller Vladimir Gilyarovsky beschreibt die streunenden Hunde Moskaus um 1880 in seinem Buch “Die Geschichte der Slums” (6). Er dokumentiert, dass dieses Zusammenleben damals von beiderseitigem Respekt geleitet war.
Vielleicht hat sich 100 Jahre später mit den Moskauer Metro-Hunden tatsächlich eine neue Form dieses Arrangements entwickelt. Vielleicht ist es eine Symbose zum beiderseitigen Vorteil von Mensch und Hund unter den besonderen Bedingungen einer modernen Metropole im 21. Jahrhundert. Es ist jedenfalls äußerst spannend, die Moskauer Erfahrungen einmal näher anzuschauen, Sichtweisen, die unter Kynologen und Hundefreunden in Deutschland kaum bekannt sind.
Unter der Flagge des Tierschutzes finden sich hingegen nicht selten selbstherrliche „Know-Alls“, die meinen, Verständnis für Hunde,Tierschutz und Tierliebe seien Eigenschaften, die nur von Deutschland aus exportiert und dann in 4-beiniger Form importiert werden könnten.
Natürlich ist es richtig und notwendig, die Stimme gegen jede Form von tierquälerischem Umgang mit Hunden und anderen Tieren zu erheben. Aber vielleicht ist hie und da auch ein wenig Bescheidenheit und Nachdenken hilfreich und ebenfalls das Kehren vor der eigenen deutschen Tür. In Deutschland dürfen Züchter und Halter praktisch unlimitiert Hunde nach ihren “modischen” Vorstellungen wie vierbeinige Barby-Puppen verformen – um es freundlich auszudrücken. Dass der Mops ohne Fang kaum atmen kann und die schönen runden Augen leicht aus der Höhle fallen, wird nur allzu gerne verdrängt.
Und der Streuner in der Moskauer Metro lebt vielleicht ein glücklicheres Leben als der wohlgenährte Hund in einem deutschen Ballungszentrum, der jegliche Form der Selbstbestimmung und jegliche Freiheit verloren hat. Er lebt vielleicht glücklicher als der Hund in Deutschland, der legal nur auf ein paar abgegrenzten Wiesen ohne Leine laufen darf. Und er lebt sehr wahrscheinlich sogar sehr viel glücklicher als der Rassehund im Tierschutz-Deutschland, der per künstlicher Besamung vermehrt und dann per Kaiserschnitt zur Welt gebracht werden muss.
Kommen wir noch einmal zurück auf das, was wir von der Ukraine hören.
Vielleicht ist hier mancherorts dieses Jahrhunderte alte Arrangement vom heutigen Menschen gekündigt worden. Wie kann eine Spezies so grausam mit seinem alten Partner umgehen? Kein guten Zeugnis für den Charakter.
Auch die mächtigen und reichen Fußballverbände, in Deutschland der mitgliederstärkste Verband überhaupt, spielen keine gute Rolle. Die UEFA will die Hunde weg haben, eine “saubere” Fußball-EM zelebrieren. Wenn diese Variante des Zusammenlebens von Menschen und Hunden durch die Ukrainer wirklich gekündigt sein sollte – wir wissen es nicht genau – kann man die Hunde nicht den Grausamkeiten mancher Zweibeiner überlassen. Hier könnten dann die von Andreij Pojarkow für Moskau abgelehnten Sterilisationsprogramme Linderung bringen. Ein weiteres Stück Kultur geht wohl verloren.
Christoph Jung ist Psychologe, studierte Biologie, Initiator des Dortmunder Apell für eine Wende in der Hundezucht und Autor des Schwarzbuch Hund, Die Menschen und Ihr bester Freund!
WSJMoscow’s Metro, a Stray Dog’s Life Is Pretty Cushy, and Zoologists Notice
Siehe auch:
- Hund fährt allein Bus in Seattle
- Die Hölle für die Hunde in Rumänien
- Abschlachten der Hunde in der Ukraine geht weiter!
- Wird die EURO 2012 das Töten der Tiere stoppen?
- Österreich hilft gejagten Hunden in der Ukraine!
- Hilfe für Tierheim in Kiev aus Österreich
- Kiev unterzeichnet Vertrag mit Tierschutzbund gegen Massentötungen
- Strassenhunde – Pilotprojekt in Odessa
(1) Susanne Sternthal, Moscow’s stray dogs, in The Financial Times, 16.01.2010
(2) Ray und Lorna Coppinger, Hunde: Neue Erkenntnisse über Herkunft, Verhalten und Evolution der Kaniden, 2003
(3) Friedrich Lühr in Hans Räber, Enzyklopädie der Rassehunde, Bd 1
(4) Ludwig Beckmann, Rassen des Hundes in 2 Bänden, 1895
(5) Josef Müller, Auf der Spur des Gefährten, Bd 1
(6) Vladimir Gilyarovsky The Stories of the Slums, 1887
Foto 1: ©-bobbik; Foto 2: ©Sergey Ryzhov; Foto 3: ©Arseny Anosov; Foto 4: Foto:© SVM; Foto 5: Foto:©-Callalloo
Freie Hunde, die U-Bahn fahren. Wie schön ist das? Wundervoll!
Danke Moskau. Danke, für so viel Liebe gegenüber dem Leben.
Hoch intelligent diese Hunde. Wenn sie akzeptiert sind, sollten sie weiter so leben dürfen.
Ich hoffe es bleibt noch lange so in Moskau.
Ihr seit toll. In anderen Ländern schlachte sie den besten Freund des Menschen leider erbarmungslos ab.
Weiter so Moskau
Habe soeben den Artikel ueber die Hunde,die in russischen Staedten leben,gelesen und muss meine Meinung unbedingt loswerden.Ich frage mich allen Ernstes,wie ein Zoologe sich gegen ein Sterilisations-Programm aussprechen kann.Das diese Tiere Plaetze und Strassen von Unrat und Metro-Stationen von Ratten freihalten,klingt im ersten Moment ganz schoen.Doch leider werden hierbei,wie so oft die sogenannten Schattenseiten komplett unter den Teppich gekehrt.Eine Sterilisation von freilebenden Tieren ist grundsaetzlich notwendig,wenn man beispielsweise bedenkt,wieviele Hunde oder auch Katzen in voellig ueberfuellten russischen Tierheimen landen,weil sie letzlich keiner gebrauchen kann.Sie werden im wahrsten Sinne des Wortes weggesperrt und muessen ihr tristes leben dort verharren.Die tieraerztlichen Versorgungen sind alles andere als ausreichend und die Lebensbedingungen katastrophal.Nicht vergleichbar mit deutschen Verhaeltnissen.Desweiteren gibt es genuegend verwarloste,kranke oder verletzte Tiere,die in den Strassen dahinvegetieren oder qualvoll verenden,weil es an Tieraerzten mangelt.Welpen,die in den kalten Wintermonaten geboren werden,kommen oftmals nicht ueber die Runden und sind dem Kaeltetod schutzlos ausgeliefert.Tiere,die sich untereinander paaren[innerhalb der Familie],leiden unter Inzucht und sind von Natur aus krank,schwach und anfaellig und fallen relativ schnell der Grossstadt zum Opfer.Sollte eines Tages ein Sterilisations-Programm in Kraft treten,gibt es nach wie vor genug Tiere,die nicht gefunden werden oder solche,die sich nicht einfangen lassen,da die Scheu vor den Menschen zu gross ist.Diese sogenannte Abschaffung von den Streunern,wird also mit Sicherheit nicht durch das Sterilisieren erreicht.Wenn man ansonsten bedenkt,dass ohne Sterilisation die Population stetig ansteigt,fuehrt es zwangslaeufig in einigen Jahren zum Chaos und spaetestens dann werden streunende Tiere mit der Genehmigung von der Regierung erschlagen,vergast oder vergiftet.Ein abschreckendes Beispiel hierfuer ist die Ukraine.Dort werden Strassenhunde gnadenlos ermordet.Ferner finden 2014 in Russland die Winterspiele statt und es sind schon Ueberlegungen im Umlauf,streunende Hunde und Katzen zu dezimieren.Bei diesem Satz blutet jedem Tierliebhaber das Herz.Ich fuer meinen Teil kann nur sagen,dass eine Sterilisation schon seit laengerem dringendst notwendig ist.
Gibt es den irgendeinen Beleg dafür das die Zahl der Straßenhunde nicht stabil ist? Und wie wir wissen werden die Hunde in der Ukraine nicht wegen der Anzahl abgeschlachtet!
Sehr geehrter Herr Schmitz,
die “Schattenseite”, welche Sie da gerade anprangern, nennt sich “natürliche Auslese” und ist die grausame, aber immer noch wirksamste Methode von Mutter Natur, eine Population im Rahmen zu halten. Wo kein Futter, da keine Nachkommen…. so war es immer, so ist es immer und so wird es immer sein. Hunde in ein Tierheim zu sperren ist Menschen(un)art.
Das ist nicht nur bei strenenden Hunden so, sondern bei allen Lebewesen auf diesem Planeten. Für uns Menschen vllt. nicht ganz fein anzusehen, wenn Welpen verhungern usw (übrigens auch nicht schön anzusehen, wie ein Löwe auf ganz natürliche Art und Weise eine Antilope erlegt)… aber Hungersnöte haben auch schon Millionen von Menschen umgebracht. Da hat niemand nach Zwangssterilisation geschrieen.
Ich finde es gut, wie die Hunde in Moskau akzeptiert und respektiert werden. Trotz der Schattenseiten. Ein sehr schöner Artikel.
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Hochinteressant für uns Tierschützer ist, wie freundlich und tolerant die Moskauer mit den Hunden umgehen. Es macht sie sympatisch.
In Spanien erleben wir leider das Gegenteil. Hunde werden mit Steinen beworfen, weggejagt, auf alle Arten gedemütigt und gequält.aufgehängt, totgeschlagen und weggeworfen wie Müll. Was für ein charakterlicher Unterschied !! In Moskau hat man Freude an Hunden, in Spanien Freude an Tierquälerei.
@Veronika Meyer-Zietz
Zitat: “In Moskau hat man Freude an Hunden, in Spanien Freude an Tierquälerei”.
Richtig. In Spanien hat man ja auch Gefallen an Stierkämpfen.
Einfach nur schlimm.
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über Ihre Erkenntnisse bin ich einfach mal zutiefst beeindruckt und will mich an dieser Stelle für ihr Engagement zu Gunsten der Hunde bedanken.
Hochachtungsvoll
Katrin Kluge